Leseprobe: Rache an der Riviera

Prolog

Der Mann öffnete die Tür zur heiligen Kammer. Vier armdicke weiße Kerzen tauchten den winzigen Raum in flackerndes Licht. Vor dem Altar kniete die Frau, mit dem Rücken zu ihm. Wie immer hatte sie nichts zwischen ihre Knie und den kalten Schieferboden gelegt. »Kälte härtet dich ab. Schmerz macht dich stark.« Wie oft hatte er diese Worte gehört.

Er betrat das Zimmer, schloss die schwere Holztür hinter sich und schob den Riegel vor. Die Frau reagierte nicht. Er wusste, dass sie ihren Rosenkranz in den Händen hielt, hörte das Klappern der Perlen und ihr heiseres Flüstern: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder.« Neunundfünfzig Perlen und ein Kreuz. Sechzig Gebete. Dreiundfünfzig davon das Ave-Maria.

Er hatte noch nie einen Rosenkranz gebetet. Das war etwas für Frauen. Und doch kannte er jedes Wort auswendig, sein ganzes Leben hatte er hier zugehört. Manchmal war er in diesem monotonen Wortrauschen eingeschlafen. Das hatte sie wütend gemacht. Aber ihr Gebet hatte sie nie unterbrochen. Erst danach griff sie zur Lederpeitsche. Schmerz macht dich stark. Er hatte sich das Einschlafen abgewöhnt.

Er setzte sich auf die alte Holzbank, auf der er schon als Kind gesessen hatte, und wartete. Er blickte auf den kerzengeraden Rücken der Frau. Sie wippte im Takt ihrer Worte fast unmerklich vor und zurück. Schlank, straff, kontrolliert, so war sie immer gewesen. Ihre weißgrauen Haare hatte sie zu einem Knoten nach hinten gebunden. Von hinten wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sie fünfundachtzig Jahre alt war.

»Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.« Sie war fertig.

Stille.

Er wartete.

Nach ein paar Minuten hörte er ihre raue Stimme: »Hast du deine Aufgabe gelöst?«

»Ja, es gab keine Probleme.«

»Hast du mir etwas mitgebracht?«

Er stand auf und griff in die Tasche seiner grün-gescheckten Jägerhose. Ein zusammengeknülltes Stoff-Taschentuch, darin eingewickelt ein winziger Gegenstand. Wortlos reichte er das Bündel nach vorn.

Die Frau nahm es entgegen, ohne sich umzudrehen, stand auf und öffnete den Deckel zu einem gläsernen Schrein auf dem Altar. Sie blickte auf ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto in einem Holzrahmen und auf eine rostige Blechdose. Sie öffnete die Dose und legte das, was er mitgebracht hatte, hinein. Danach kniete sie sich wieder hin, nahm ihren abgegriffenen Rosenkranz aus der Rocktasche und begann ein neues Gebet.

Er wartete. Er wusste, er hatte alles richtig gemacht. Heute würde sie zufrieden mit ihm sein.

Es wurde still. Die Messe war zu Ende.

Seine Großmutter drehte sich um und sah ihn an. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus.

Er zuckte kurz zurück. Ein Reflex, den ihn das Leben gelehrt hatte.

Langsam, fast zärtlich, streichelte sie mit der Rückseite ihrer rissigen Finger über seine Wange.

 

Teil I

Die Entscheidung

1. Kapitel      /     Donnerstag

Das Wasser war trüb. Die Piranhas waren nicht mehr zu sehen. Alberto versuchte, irgendetwas hinter der fünf Zentimeter dicken Glasscheibe wahrzunehmen. Doch er sah nichts als eine milchig rötliche Brühe.

Er schaute sich um. Gegenüber, im großen Becken auf der anderen Seite des dunklen Gangs, drehte ein Seehund eine Pirouette und schwamm rasant wieder davon. Alberto sah ihm gedankenverloren hinterher.

Seit neun Jahren war er Tierpfleger im zweitgrößten Aquarium Europas, das auf einem umgebauten Schiff im alten Hafen von Genua lag. Ungelernt hatte er als Einundzwanzigjähriger angefangen. Und sich Schritt für Schritt immer tiefer in die südamerikanische Fischwelt hineingearbeitet. Mittlerweile gab es in ganz Italien kaum jemand, der mehr über Piranhas wusste als er. Sogar aus dem Ausland bekam er regelmäßig Anfragen, wie mit den legendären Raubfischen umzugehen sei. Doch in diesem Moment stand er vor einem Rätsel.

Alberto sah auf die Uhr. Kurz vor sieben, er hatte wie so oft als Erster seinen Dienst begonnen und war noch allein. In zweieinhalb Stunden würde der Touristenstrom beginnen. Aber seine Piranhas, eine der Hauptattraktionen, waren leider verschwunden.

Er ging näher an die sechs Meter breite und zweieinhalb Meter hohe Scheibe heran, um in der trüben Suppe vielleicht doch etwas zu erkennen. Jetzt konnte er Schatten sehen, die sich langsam bewegten. Offenbar waren die Fische noch am Leben. Aber warum war das Wasser so trüb?

Er erinnerte sich an die Zeit, als er den Piranhas manchmal Pferdefleisch als Futter ins Becken geworfen hatte. Damals hatte sich das Wasser stundenlang ähnlich verfärbt. Seitdem er nur noch aufgetauten Frostfisch verfütterte, war dieses Problem nicht mehr aufgetreten.

Alberto glaubte, ein Schnalzen hinter sich zu hören. Doch da war nur der Seehund mit seinem grau-weiß gescheckten Fell, der wieder an ihm vorbeischwamm. An dessen fünfzehn Meter langem Riesenbecken drückten sich normalerweise die Kinder ihre Nasen platt, angezogen von den Kapriolen der stets fröhlich wirkenden Robben. Die Erwachsenen dagegen waren von etwas anderem fasziniert, der Gefahr, die gegenüber lauerte: Piranhas. Hundertsechsundvierzig unschuldig aussehende Raubfische, die es sonst nur in südamerikanischen Flüssen gab. Auf dem Schild über dem Becken stand der lateinische Name: Pygocentrus nattereri, Roter Piranha, bis zu fünfunddreißig Zentimeter lang, mit Glubschaugen und einem seltsam vorstehenden Unterkiefer. Es gab definitiv schönere Fische hier im Aquarium. Aber keine anderen regten so sehr zu blutigen Phantasien an.

Viele erzählten sich die klassischen Gruselstories über ihr gefährliches Gebiss. Geschichten von Rindern, die zum Trinken ins flache Wasser gingen und auf einmal von einem Piranha-Schwarm angefallen wurden. Mit ihren messerscharfen Zähnen rissen die Fische ganze Fleischbrocken aus dem lebendigen, brüllenden Tier. Bis nur noch ein Gerippe übrig war, aufs Skelett abgenagt.

Alberto kannte auch die Legende, wonach die Amazonas-Indianer ihre Toten als Skelette begruben. Angeblich versenkten sie die Verstorbenen vorher an einem Seil im Fluss, als Aasfutter für die Fische. Und wenn sie die Leichen ein oder zwei Tage später wieder herausholten, waren nur noch sauber genagte Knochen übrig.

Die meisten dieser Geschichten waren übertrieben. Wenn Piranhas keinen Hunger hatten, waren sie ängstlich und lammfromm. Aber Alberto wusste auch, dass sie tatsächlich mit einer unglaublichen Kraft zubeißen konnten. Ein einziges Mal hatte er nicht aufgepasst, in seinem ersten Jahr als Piranha-Pfleger. Beim Füttern war ihm ein Stück Plastiktüte ins Wasser gefallen. Und ohne lange nachzudenken hatte er mit seiner rechten Hand danach gegriffen. Sekundenbruchteile später ein stechender Schmerz. Ungläubig hatte er auf den zwanzig Zentimeter großen Fisch gestarrt, der sich in seiner Fingerkuppe verbissen und seinen Kopf wild hin und her geschüttelt hatte. Dann war es vorbei. Der junge Piranha fiel zurück ins Wasser, mit seiner Beute. Ein knapper Zentimeter Zeigefinger war einfach weg. Auch die Spitze des Knochens hatte der Fisch glatt abgebissen.

Unter bestimmten Bedingungen konnte so ein Schwarm in einen regelrechten Fressrausch verfallen. Hohe Temperaturen, dadurch weniger Sauerstoff im Wasser und vor allem: wenig oder kein Futter.

Alberto machte sich klar, dass diese Voraussetzungen gerade erfüllt waren. Die Sommerhitze hatte das Wasser um ein paar Grad erwärmt. Und die Piranhas hatten seit einer Woche nichts gefressen. Erst für morgen war die nächste Fütterung angesetzt.

Nachdenklich betrachtete Alberto die Narbe auf seinem Fingerstumpf. Hatte jemand den Fischen etwas ins Becken geworfen?

Er schaute hoch. Etwas schien tatsächlich an der Wasseroberfläche zu treiben. Ein großer, länglicher dunkler Gegenstand. Er würde sich das Piranha-Becken von oben ansehen müssen, um herauszufinden, was es war.

Er ging durch eine schwarze Tür hinein in den Versorgungsbereich. Ein unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen. Während er einen Fuß nach dem anderen auf die Stahlstufen setzte, die zum Beckenrand führten, zwang er sich, die Treppe zu fixieren.

Er spürte ein Ziehen in seinem Magen. Angst vor dem, was hier passiert war. Was auch immer da im Wasser trieb, es gehörte dort nicht hin. Und es hatte dazu geführt, dass seine Piranhas nicht mehr zu sehen waren.

Schließlich hob er langsam seinen Blick — und sah in die leeren Augen eines Totenkopfes. Auf dem Wasser trieb ein zerfetzter Körper. Er bewegte sich. Der Kopf nickte auf und ab. Der rechte Arm ruderte in Schlangenlinien durch das Wasser.

Alberto spürte Panik in sich aufsteigen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, und schaute genauer hin. Die Bewegungen wurden von den Piranhas ausgelöst, die er von oben wieder schemenhaft sehen konnte. Sie zerrten an dunklen Gewebefetzen herum. Menschenfleisch.

 

2. Kapitel      /     Freitag

Johann Sorbello hatte großartige Laune. Nur noch das Gespräch mit Commissario Moreno über die Piranha-Leiche, und das lang ersehnte Wochenende konnte beginnen.

Von seinem Fenster im dritten Stock des gerichtsmedizinischen Instituts sah er die grünen Ausläufer der Seealpen. Ein Stückchen links davon, verdeckt durch das chaotisch bunte Häusergewirr der Altstadt, ahnte er den tiefblauen Golf von Genua.

Der Himmel war wolkenlos, die Sonne schickte ihre letzten Strahlen des Tages, und für morgen sagte das Internet fünf bis sechs Windstärken voraus. Es würde ein perfekter Surftag werden.

Wenn die Leute ihn, den deutschen Halbitaliener, immer wieder fragten, warum er sich ausgerechnet Genua ausgesucht hatte, konnte er viele Gründe nennen: Da gab es die faszinierende Altstadt mit ihren schmalen schattigen Gassen, in denen keine Autos fuhren und abends die Gerüche von Pasta und Pesto übers Pflaster zogen. Mit dicht gedrängten fünf- bis sechsstöckigen Häusern, zwischen denen man den Himmel nur erhaschen konnte, wenn man den Kopf in den Nacken legte. Wo jede »Piazza« wie eine Lichtung wirkte, auf der die Sonnenstrahlen endlich Einlass fanden, um prunkvolle Fassaden aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert zu erleuchten.

Dann war da die einzigartige Lage an der Riviera mit Dutzenden von traumhaften Stränden in direkter Nähe und einem milden Klima, bei dem man selbst im November noch zum Baden ins Mittelmeer springen konnte.

Und schließlich war es für ihn natürlich eine große Herausforderung, an der Spitze eines der wichtigen gerichtsmedizinischen Institute Italiens zu stehen.

Doch in den sechs Monaten, die er schon hier war, hatte er schnell gemerkt, dass es noch einen wesentlichen Grund gab, sich in der quirligen Hafenstadt wohlzufühlen: Für leidenschaftliche Windsurfer wie ihn war diese Bucht mit ihren regelmäßigen thermischen Winden, die von den Seealpen aufs Mittelmeer herunterfielen, ein echter Hotspot.

Das Klopfen an der Tür riss Johann aus seiner Vorfreude. Zu seiner Überraschung trat nicht der Leiter der Mordkommission ein, sondern Guido Ferrari, mit vierundzwanzig Jahren jüngster Assistenzarzt am gerichtsmedizinischen Institut. Guido war klein, schmächtig und demonstrativ homosexuell. Er hatte seine mittellangen Haare weißblond gefärbt, schminkte sich immer sorgfältig und trug mit Vorliebe farbenfrohe Kleidung. Auch heute war sein Make-up perfekt, dazu trug er ein eng anliegendes, schlammfarbenes T-Shirt und eine nachtblaue Stoffhose.

Johann versuchte wie so oft, ein spontanes Grinsen zu unterdrücken.

Guido dagegen strahlte ihn an. »Dottore, darf ich Sie kurz stören?«

Johann ahnte, dass Guido nicht über wissenschaftliche Ergebnisse mit ihm reden wollte, sondern wieder einmal über seine Alpträume. Am Vorabend hatten sie die Leiche aus dem Piranha-Becken zusammen obduziert.

Er seufzte verstohlen. »Machen Sie es kurz. Ich erwarte jeden Moment Besuch von der Polizei.«

»Dottore, wie schaffen Sie das nur, so etwas nicht an sich heranzulassen? Ich habe die ganze Nacht von diesem zerfressenen Körper geträumt. Selbst wenn ich jetzt die Augen zukneife, sehe ich den gruseligen Totenschädel vor mir.« Guido schloss demonstrativ die Augen und verzog sein Gesicht zu einer seltsamen Grimasse.

Johann atmete tief durch. Zum wiederholten Male fragte er sich, ob Guido ein guter Gerichtsmediziner werden würde. Auf wissenschaftlichem Gebiet war er den anderen Assistenten weit voraus. Er war scharfsinnig und hatte einen guten Blick für das Wesentliche. Auf der anderen Seite nahm er sich praktisch alles zu Herzen, besonders die Leichen auf dem Seziertisch. Während der Untersuchungen funktionierte er perfekt und war augenscheinlich in der Lage, seine Emotionen auszuschalten. Nach getaner Arbeit jedoch überfielen ihn die Eindrücke und Gefühle umso stärker. Nicht gerade hilfreich für einen Gerichtsmediziner.

Und doch war Johann froh, den jungen Mann eingestellt zu haben. Er war ein wohltuender Farbklecks im staubigen, grauen Institut. Und: Guido war in dieser oft so feindseligen Umgebung praktisch sein einziger Verbündeter.

»Mein lieber Guido, Sie wissen doch: Wir sind Wissenschaftler. Und auf unserem Tisch liegen keine Schicksale, sondern spannende Untersuchungsaufgaben. Sie müssen das völlig emotionslos sehen. Wer dieser Mensch war und wie viel er möglicherweise gelitten hat, sollte Ihnen absolut egal sein. Wir haben da ein sehr konkretes Rätsel vor uns, und dieses Rätsel gilt es zu lösen.«

Johann war sich schmerzlich bewusst, dass er seinem jungen Assistenten gegenüber gerade nicht ehrlich war. Denn ausgerechnet diese Leiche hatte auch ihn zutiefst berührt. Doch er wollte es sich als Chef nicht leisten, Gefühle zu zeigen.

»Ich weiß ja, Dottore«, antwortete Guido. »Aber es ist wirklich nicht leicht. Wie haben Sie das damals geschafft, als Sie in der Ausbildung waren?«

Johann dachte innerlich staunend darüber nach, dass diese Zeit kaum mehr als zehn Jahre zurücklag. Mit seinen sechsunddreißig Jahren war er gerade mal zwölf Jahre älter als Guido. Der jüngste leitende Gerichtsmediziner im ganzen Land, zudem der einzige Deutsche.

Das erneute Klopfen an der Tür unterbrach seinen Gedankenfluss und erlöste ihn aus der Not, eine gute Antwort auf Guidos Frage zu finden.

Sein Assistent verabschiedete sich sofort und ging, Commissario Bruno Moreno trat ein. Johann registrierte den abfälligen Blick, den er Guido hinterherwarf.

Er schüttelte Moreno die Hand und stellte wieder einmal fest, dass dieser dabei an ihm vorbeisah.

Johann kannte den Leiter der Mordkommission aus mehreren vorangegangenen Ermittlungen. Ein kleiner, schlanker Mann, immer perfekt gekleidet, heute in einem frisch gebügelten Leinenhemd, darüber ein dunkelgraues Sakko. Die mittellangen dunkelbraunen Haare trug er stets mit jeder Menge Gel nach hinten gekämmt. Offensichtlich waren sie gefärbt, Johann konnte nicht die Spur eines grauen Ansatzes entdecken. Mit Mitte fünfzig war das nicht besonders glaubwürdig.

»Tut mir leid, Dottore. Ich konnte nicht früher kommen«, sagte Moreno mit seiner leisen Stimme. »Wir mussten noch einer Spur in der Sache mit der Piranha-Frau nachgehen.«

»Kein Problem«, antwortete Johann. »Wissen Sie mittlerweile, wer sie ist?«

Er hatte schon viele Leichen auf seinem Seziertisch gehabt, denen er buchstäblich nicht mehr ins Gesicht schauen konnte. Besonders unschön waren Körper, die längere Zeit im Wasser gelegen hatten. Sobald sich im Prozess der Leichenfäulnis Teile der Gesichtshaut ablösten, hatte Johann immer wieder mal erlebt, dass selbst hartgesottene Ermittler eine Auszeit von der Sektion brauchten.

Natürlich hatte er auch schon Leichen ganz ohne Kopf seziert. Und einmal hatte ein psychisch gestörter Schlachtermeister seinem Opfer fein säuberlich die Gesichtshaut abgezogen. Ein Anblick, den Johann lange nicht losgeworden war.

Dagegen hatte ihn die Leiche aus dem Piranha-Becken zunächst einmal seltsam kalt gelassen. Alles Menschliche war verschwunden. Die Fische hatten einen Großteil der Haut und auch gewaltige Stücke der Muskulatur weggefressen. Selbst die inneren Organe waren perforiert.

Erst gestern Vormittag war Johann mit Blaulicht ins Aquarium gefahren. Das riesige Gebäude im alten Hafen von Genua war von Dutzenden Polizisten umringt gewesen. An den Kassen davor hatten bereits lange Schlangen von Touristen gestanden, die einerseits darauf hofften, endlich eingelassen zu werden, andererseits aber auch gespannt darauf warteten, dass vor ihren Augen irgendetwas passieren könnte.

Am Tatort selbst hatte es für ihn nicht viel zu tun gegeben. Auf die erste Untersuchung der Leiche im Becken hatte er verzichtet; es war einfach zu gefährlich. Er ordnete also zunächst an, dass die Kriminaltechniker vorsichtig Wasserproben entnahmen. Danach stand die Frage im Raum, wie die Männer von der Spurensicherung die Leiche aus dem Aquarium herausheben sollten. Auch mit Handschuhen schien das Risiko, verletzt zu werden, zu groß. Schließlich brachte der Tierpfleger mehrere lange Metallgreifer, die normalerweise dazu benutzt wurden, das Becken innen zu säubern. Damit gelang es den Polizisten schließlich, den Körper zu fassen und auf eine Plane zu legen.

Ein Blick genügte Johann, um zu erkennen, dass er die Untersuchung nicht dort, sondern im gerichtsmedizinischen Institut fortsetzen würde. Das Einzige, was er mit einem speziellen Tatortthermometer überprüfte, war die Temperatur im Inneren des Restkörpers. Siebenundzwanzig Grad – genau die Temperatur des Aquariumwassers. Für die Ermittlung des Todeszeitpunktes half ihm das nicht weiter. So, wie die Leiche aussah, musste sie schon ein paar Stunden im Becken gelegen haben.

Kurz darauf war das, was von dem unbekannten Menschen übrig geblieben war, vorsichtig auf seinem Sektionstisch ausgepackt worden. Und er hatte untersucht, was möglich gewesen war.

Johann konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm ein Opfer jemals so wenige Anhaltspunkte zur Analyse geboten hatte. Für die Identifizierung gab es weder ein Gesicht noch Fingerabdrücke. Nur die DNA und der Zahnstatus lagen vor. Die Piranhas hatten zwar das Zahnfleisch angenagt, das Gebiss war aber weitgehend unversehrt geblieben. Schon daraus konnte Johann ersehen, dass er einen relativ jungen Menschen vor sich liegen hatte. Das Skelett gehörte zu einer Frau, sie musste zwanzig bis dreißig Jahre alt gewesen sein, etwa einen Meter sechzig groß, keine erkennbaren Knochenbrüche.

Wie immer, wenn er eine Leiche aufs Genaueste untersucht hatte, war er in diesem Moment gespannt, welcher Mensch, welches Leben diese sterbliche Hülle ausgefüllt hatte. Er wartete auf die Antwort des Commissario.

Moreno blickte aus dem Fenster, als er schließlich sprach. »Sie heißt Francesca Ermia, war vierundzwanzig Jahre alt und Sekretärin in einer Firma. Sie wurde gestern von ihrer besten Freundin als vermisst gemeldet. Wir haben ihren Zahnarzt gefunden und ihm den Zahnstatus geschickt. Er hat vorhin angerufen und bestätigt, dass es sich um seine Patientin handelt.«

»Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihr das angetan haben könnte?«

Moreno sah irgendwo in die ligurische Berglandschaft und antwortete nicht. Offenbar hatte er nicht vor, Johann weitere Details über die tote Frau im Piranha-Becken zu erzählen. Stattdessen stellte jetzt er die Fragen.

»Was können Sie mir über die Todesursache sagen? Wir haben das ganze verdammte Fischbecken leeren lassen. Vorher wurde stundenlang jeder einzelne beschissene Piranha mit einem Kescher herausgefischt. Gefunden haben wir nichts. Keine Waffe, keine Kleidungsreste, keinen Schmuck, gar nichts.«

Johann öffnete den Ordner, den er auf seinem Tisch bereitgelegt hatte. »Vielleicht das Wichtigste zuerst: Die Frau war schon tot, als sie in das Becken geworfen wurde. Ihre Lunge war als einziges Organ fast unverletzt. Wir haben kein Wasser darin gefunden. Also ist sie nicht ertrunken.«

»Könnte es nicht sein, dass die Fische sie getötet haben?«

Johann hatte die Frage erwartet. Er hatte selbst eine Weile darüber nachgedacht.

»Zwei Gründe sprechen dagegen: Erstens, wenn die Fische sie bei lebendigem Leibe gefressen hätten, wäre sie im Becken verblutet. In dem Fall hätten wir im Wasser mehr Blut finden müssen. Aber in unseren Proben gab es erstaunlich wenig Blut. Das bedeutet, der Blutkreislauf war schon lange unterbrochen, als die Piranhas ihr die erste Wunde zufügten. Zweitens, und damit kommen wir zur wahrscheinlichen Todesursache: In der Lunge gab es zwar kein Wasser, aber etwas anderes. Und das habe ich offen gestanden in meiner Karriere noch nicht erlebt. In ihrer Lunge identifizierten wir Öl, sehr wahrscheinlich Olivenöl.«

Moreno wirkte erstaunlich gelangweilt. »Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass sie ziemlich sicher an Olivenöl erstickt ist. Wenn es so etwas gäbe wie ein Schwimmbecken mit Olivenöl, würde ich sagen, sie ist darin ertrunken. Wie gesagt, ich kenne keine Präzedenzfälle. Ansonsten gibt es keine Verletzungen, die nicht von den Fischen herrühren.«

»Kann jemand ihr das Öl eingeflößt haben? So lange, bis sie keine Luft mehr bekommen hat?«

»Möglich wäre das. Normalerweise hätten wir in diesem Fall Blutergüsse oder andere Anzeichen von Gewalt an ihrem Gesicht und ihrem Hals entdecken müssen. Aber leider haben uns die Fische ja die Möglichkeit genommen, solche Indizien zu aufzuspüren. Wenn ich ein Handbuch für den perfekten Mord schreiben müsste, bekäme die Entsorgung der Leiche in einem Piranha-Becken definitiv ein eigenes Kapitel. Ich kann mir kaum eine bessere Idee vorstellen, alle Spuren zu verwischen.«

Moreno zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und sah Johann mit einem Mal scharf ins Gesicht. »Darf ich?« Die Frage war reine Floskel.

Johann schob ihm den Aschenbecher über den Tisch. Er selbst hatte sich das Rauchen im Medizinstudium abgewöhnt, schwer beeindruckt von der schwarz angelaufenen Teerlunge eines Kettenrauchers, die er mit den Kommilitonen im Präparationskurs seziert hatte.

Hier in Italien schienen fast alle Menschen zu rauchen. Im Institutsgebäude war das Rauchen zwar schon seit Jahren streng verboten. Und trotzdem wurde der Aschenbecher im Büro des obersten Gerichtsmediziners von Genua regelmäßig benutzt. Gewohnheitsrecht, es schien schon immer so gewesen zu sein, auch bei Johanns Vorgänger, Dottore Alessandro Bertoli, dem früheren Leiter der Gerichtsmedizin. Fast zwanzig Jahre lang hatte Bertoli dieses Zimmer okkupiert. Vor einem Jahr war der damals Neunundfünfzigjährige suspendiert worden. Sechs Monate danach hatte Johann das Büro übernommen. Von Anfang an war ihm, dem »Tedesco«, dem Deutschen, von fast allen Institutsmitarbeitern kaum verhohlene Feindseligkeit entgegengeschlagen. Da schien es ihm übertrieben deutsch, gleich zu Beginn seines neuen Jobs den fanatischen Nichtraucher zu spielen. Er hatte den Aschenbecher auf seinem Konferenztisch stehen lassen.

Commissario Moreno zündete sich eine Zigarette an und führte sie mit einer seltsam affektierten Geste zum Mund. Er inhalierte tief und fragte: »Okay, was gibt es noch? Anzeichen von Drogen oder Alkohol?«

»Soweit wir das feststellen können: weder Alkohol noch andere Drogen. Der Todeszeitpunkt ist schwer einzugrenzen, irgendwann zwischen sechs Uhr abends und Mitternacht. Wahrscheinlich hat sie nichts zu Abend gegessen. Jedenfalls konnten wir im Magen sowie in den Wasserproben keine Rückstände menschlicher Nahrung finden. In ihrer Vagina fanden sich aber Spuren von Sperma. Wir können leider nicht mehr herausfinden, ob sie vergewaltigt wurde oder einfach nur kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte. Die DNA des Spermas haben wir jedenfalls analysiert.«

Moreno blies Rauch in die Luft und grinste derb. »Wenigstens hat sie vor ihrem Tod noch ein bisschen Spaß gehabt. Okay, was noch?«

Johann blätterte eine Seite in seinem Ordner um. Er war gespannt, ob sich Moreno endlich zu einer emotionalen Reaktion hinreißen lassen würde. Denn was als Nächstes kam, war der Teil der Untersuchung, der ihn selbst aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Er erinnerte sich genau an den Augenblick. Vorsichtig hatte er das, was von der Gebärmutter übrig gewesen war, freigeschnitten und aus dem Körper herausgehoben. Normalerweise wurden die Organproben erst im Nachhinein analysiert. Aber bei dieser Leiche war eben nichts normal. Da die Piranhas auch hier gewütet hatten, konnte er in die Gebärmutter hineinschauen. Und sah den Embryo, beziehungsweise das, was von ihm übrig war. Der Anblick des angefressenen Fötus hatte Johann die Tränen in die Augen getrieben. In diesem Moment war es vorbei gewesen mit der professionellen Distanz, die er vorher erst wieder dem jungen Guido empfohlen hatte.

»Der Tote als wissenschaftliches Objekt, in dem es richtig zu lesen gilt.« – Johann erinnerte sich nur zu gut an den Leitspruch seines Berliner Professors. Er hatte immer gut damit gelebt und sich nur selten dafür interessiert, welche Schicksale hinter den Körpern auf seinem Tisch gesteckt hatten. Aber die Vorstellung, dass die Fische ihre Zähne in diese Leibesfrucht geschlagen hatten, hatte ihn erschauern lassen.

Jetzt sagte er ruhig: »Sie war im fünften Monat schwanger. Es wäre ein Mädchen geworden. Wir konnten die DNA feststellen, obwohl die Fische einen Teil des Embryos gefressen haben. Der Vater ist ziemlich sicher derselbe Mann, von dem das Sperma stammt.«

Moreno sah ihn mit müden Augen an. Ob ihn die Nachricht berührte, war nicht zu erkennen. »Gut, das ergibt vielleicht einen Sinn.«

»Was meinen Sie, gibt es schon einen Verdächtigen?«

Moreno bequemte sich nun doch zu einer Antwort: »Der Freund des Opfers ist verschwunden. Er arbeitete als Tierpfleger im Aquarium. Er hatte jedenfalls die Möglichkeit, sich dort Zutritt zu verschaffen. Wir haben keine Einbruchsspuren gefunden.«

»Aber warum sollte er die Leiche ausgerechnet im Piranha-Becken ablegen?«

»Das werden wir ihn fragen, wenn wir ihn gefunden haben. Vielleicht haben sie Streit gehabt. Vielleicht ist er durchgedreht. Die beste Freundin sagt zwar, dass die beiden ein Herz und eine Seele waren. Aber sie war nicht besonders kooperativ. Keine Ahnung, ob die blöde Kuh die Wahrheit sagt.«

»Und das Öl?«

Moreno wirkte genervt. »Keine Ahnung. Vielleicht stand die Olivenölflasche gerade auf dem Tisch in Reichweite. Vielleicht haben sie sich über das richtige Salatdressing gestritten. Dann hat er sie eben gepackt und ihr das Öl in den Hals gegossen. Was weiß ich.« Er stand auf. Ein deutliches Signal, dass das Gespräch für ihn beendet war.   Johann merkte, dass Morenos herablassende Art ihm die gute Laune nahm. »Warten Sie einen Moment, Commissario. Ich glaube nicht, dass ihr das Öl eingeflößt wurde. Wenn ein Mann in Wut gerät, wenn er eifersüchtig ist oder was auch immer, dann würde er zuschlagen, vielleicht zum Messer greifen. Normalerweise erwürgen gehörnte Ehemänner ihre Frauen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Inhalt einer Ölflasche reicht, um einen Menschen damit zu ersticken. Das Opfer würde sich wehren, würde husten, würde einen Teil wieder ausspucken.«

»Wer weiß das schon. Sie sagen ja selbst, es gibt keine Präzedenzfälle. Vielleicht hat der Wichser sie bewusstlos geschlagen, ihr das Öl in den Mund gekippt und ihr die Nase zugehalten. Er wird es uns hoffentlich bald erzählen.« Moreno wandte sich zur Tür.

Doch Johann ließ nicht locker: »Zwei Dinge noch: Wir haben eine Analyse des Öls in Auftrag gegeben. Es gibt da spezielle Verfahren, mit denen man feststellen kann, um welche Sorte es sich handelt. Das wird aber ein paar Tage dauern. Und noch etwas Seltsames. Dem Opfer fehlte ein Schneidezahn, der zweite oben rechts. Keine Ahnung, warum. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die Fische ihn gefressen haben. Soweit ich weiß, hat man ihn auch nicht im Becken gefunden.«

Johann hielt kurz inne, um sich zu konzentrieren. Die Sache mit dem Schneidezahn weckte eine Erinnerung in ihm. Schon als er die Tatsache des fehlenden Zahns bei der Sektion in sein Diktiergerät gesprochen hatte, war ihm der Anflug eines Gedankens gekommen. Eine Assoziation, eine Idee, vielleicht ein anderer Fall?

Wieder versuchte er, sich konkret zu erinnern, was sich dahinter verbarg, wieder vergeblich. Also fuhr er fort.

»Das mit dem Zahn ist umso auffälliger, als sie ansonsten ein perfektes Gebiss hatte. Sie sollten den Zahnarzt fragen, ob sie deswegen in Behandlung war.«

Moreno war stehen geblieben. Er zog ein etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter großes Farbfoto aus der Tasche seines Sakkos und schaute es sich an.

»Also, hier auf dem Bild hat sie keine Zahnlücke. Die Freundin hat es aufgenommen. Sie sagt, die Aufnahme sei erst ein paar Tage alt.«

»Darf ich mal sehen?«

Johann war tatsächlich neugierig. Die seltsamste Leiche seines Lebens bekam ein Gesicht.

Eine schöne, dunkelhaarige Frau sah ihn an. Ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, intensive dunkelbraune Augen. Sie schenkte der Kamera ein strahlendes Lächeln. Ihre Zähne waren makellos. Aber das war es nicht, was Johann aus der Fassung brachte.

Er starrte das Bild von Francesca Ermia an, hörte seinen Puls in beiden Ohren hämmern, spürte die aufsteigende Hitze in seinem Gesicht. Er wendete sich ab, um zu verbergen, dass er rot geworden war, ging zum Fenster und holte erst einmal tief Luft. Doch Moreno hatte seine Aufregung bemerkt.

»Was ist los? Kennen Sie die Frau etwa?«

»Nein. Aber sie sieht genauso aus wie eine Frau, die ich einmal kannte.« Johann zögerte ein paar Sekunden lang. »Sie wurde auch ermordet. Sie ist sozusagen ein Geist aus meiner Vergangenheit.«

Er hatte nicht vor, dem Commissario zu erzählen, welche Geschichte dahintersteckte.

 

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