Prolog
Donnerstag, 2. Mai, 3:07 Uhr
Als Francesco die Party verließ, deutete noch nichts darauf hin, dass er am nächsten Morgen blutüberströmt in einer Gefängniszelle aufwachen würde. Gequält von heftigen Kopfschmerzen und ziemlich verwirrt angesichts der beiden Männer in weißen Anzügen, die Proben von dem Blut entnehmen wollten, das nicht seines war. Sechs Stunden zuvor war er durchgeschwitzt und bester Laune aus dem Haus getreten, in dem die Kollegen noch weiter den Junggesellenabschied eines Freundes feierten. Er wusste nicht mehr, wie viele Weinflaschen sie zusammen geleert hatten. Es war nach 3 Uhr morgens, er war völlig betrunken, trotzdem stand für ihn außer Frage, dass er die Vespa nehmen würde. In dieser Nacht war die Wahrscheinlichkeit, in eine Polizeikontrolle zu geraten, sehr gering. Draußen tobte einer dieser heftigen Gewitterstürme, die Genua in den letzten Jahren immer öfter heimsuchten. Da blieben die Carabinieri lieber in ihrer Kaserne.
Auf der Straße schlug ihm der Regen wie eine nasse Wand ins Gesicht. Das ließ ihn ein bisschen wacher werden, doch das Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen, blieb. Unsicher stieg er auf seinen verbeulten Roller, startete den Motor und merkte beim Losfahren, dass er den Helm auf der Party vergessen hatte. Egal, er wollte nur noch heim. Da er im strömenden Regen kaum etwas sehen konnte, wählte er einen Schleichweg durch kleine Straßen und Gassen. Dabei fuhr er langsam und in leichten Schlangenlinien, bis sein Zweitaktmotor kurz aufheulte und dann einfach erstarb. Kein Benzin mehr, die Erkenntnis sickerte nur langsam in sein schummriges Bewusstsein, er hatte vergessen zu tanken. Obwohl er mindestens eine Stunde Fußmarsch vor sich hatte, griff er nach dem Lenker und begann zu schieben.
Zweimal verlor er die Kontrolle. Beim ersten Mal gelang es ihm noch irgendwie, den Motorroller festzuhalten. Doch dann übersah er einen Steinbrocken auf dem triefenden Asphalt. Das Vorderrad blockierte, die Vespa kippte auf die linke Seite und holte sich eine neue Schramme. Ihm knickten die Knie ein, er fiel nach rechts auf den Bordstein und verspürte trotz der kalten Nässe den intensiven Wunsch einfach liegenzubleiben. Nur ganz kurz wollte er die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, hatte er jedes Gefühl dafür verloren, wie lange er hier eigentlich schon im Rinnstein lag. In diesem Moment, die Wange noch auf den Beton gepresst, sah er etwas, das ihm neue Energie einflößte: ein roter Benzinkanister, abgestellt am Straßenrand keine zehn Meter von ihm entfernt.
Er rappelte sich auf, wankte zu dem Kanister und hob ihn an. Das Plastikgefäß war randvoll. Francesco konnte sein Glück kaum fassen. Mit letzter Kraft schob er die Vespa unter das Vordach einer Trattoria und öffnete den Tank. Ohne weiter nachzudenken schüttete er den Inhalt des Kanisters hinein, ungeduldig und viel zu schnell, so dass die Flüssigkeit glucksend überschwappte. Unter der Vespa wuchs eine Pfütze, schillernd und rötlich. Seltsam, dachte Francesco. Er hob den Kanister zu seiner Nase, um daran zu riechen. Dabei trat er mit einem Fuß in die Pfütze, rutschte darin aus und verlor das Gleichgewicht. Wie ein nasser Sack fiel er auf den Rücken, schlug mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden auf, den Kanister immer noch in den Händen. Er spürte, wie sich der Rest der Flüssigkeit über ihn ergoss. Ein seltsamer metallischer Geruch zog ihm in die Nase. Dann verlor er das Bewusstsein.
Teil I: Blut
Kapitel 1 / Johann / Donnerstag, 13:44 Uhr
Sein Handy vibrierte. Johann Sorbello schaute auf das Display: Guido Ferrari rief an, sein Assistent im gerichtsmedizinischen Institut. Möglicherweise gab es eine neue Leiche.
„Geh ruhig dran, wenn es wichtig ist“, sagte Raffaella.
Sie nahm die Unterbrechung sofort zum Anlass, ihr eigenes Smartphone aus der Tasche zu ziehen und ihre Nachrichten zu checken. Johann schaute ihr nachdenklich dabei zu und ließ es weiter klingeln. Er verspürte gerade nicht die geringste Lust auf den nächsten Routinefall. Die Möglichkeiten ratterten durch seinen Kopf. Am wahrscheinlichsten: alter Mensch im Heim, wundgelegen mit großen Druckgeschwüren, möglicherweise von den Pflegern vernachlässigt. Oder: Selbstmord, in der Regel mit Schlaftabletten, manchmal mit einem Seil, selten durch einen Sprung in die Tiefe. Wieder summte das Handy, eine Meldung poppte auf, Guido hatte eine Sprachnachricht geschickt. Johann ließ das Telefon liegen. Statt dessen verlor er sich in düsteren Gedanken. Eigentlich war sein Leben beneidenswert. Er arbeitete mit seinen gerade mal 37 Jahren als leitender Gerichtsmediziner von Genua, verdiente ordentlich und lebte in einer fantastischen Stadt am Mittelmeer. Und trotzdem, auch wenn es ihm schwer fiel es zuzugeben, fühlte er sich rastlos und unzufrieden. Sein Job langweilte ihn zutiefst. Er hasste die regelmäßigen Einsätze als Leichenbeschauer im Krematorium. Er war genervt, wenn sich ein Mordverdacht unter seinem Skalpell als ganz normaler Herzinfarkt herausstellte. Und sehnte sich insgeheim nach einem ungewöhnlichen, vielleicht sogar rätselhaften Todesfall, der ihn aus diesem grauen Alltag heraus reißen könnte.
„Hast du eigentlich Angst vor mir?“
Raffaella stellte ihre Frage ohne jede Vorwarnung. Sie hatte ihr Handy wieder eingesteckt und sah ihn offenbar schon eine ganze Weile lang aufmerksam an. Johann wusste, worauf sie hinaus wollte. Es war das zweite Thema, das ihm wie eine schöne, aber schwere Last auf der Seele lag: die Frauen in seinem Leben.
Er suchte nach einer guten Antwort, fand aber keine. Raffaella saß ihm ruhig gegenüber und wartete geduldig, ein ungewöhnlich attraktiver Anblick mit ihren fein geschnittenen Gesichtszügen, die von üppigen schwarzen Locken umrahmt wurden, darunter braune Schultern in einer ärmellosen Bluse. Sie hatten gerade ihren Hauptgang beendet. Um sie herum an einem langen Holztisch mit rot-weiß karierter Tischdecke ein Dutzend anderer Gäste, scheinbar mit sich selbst beschäftigt. Und doch nahm Johann im Augenwinkel wahr, wie zumindest die Blicke der Männer immer wieder kurz und intensiv auf Raffaella haften blieben. Sie hatte eine erotische Ausstrahlung, die auch ihn magisch anzog. Seit Monaten versuchte diese Frau ihn zu verführen. Er hatte jedem ihrer Angebote widerstanden. Jetzt wollte sie wissen warum.
Rosanna, die Kellnerin, erlöste ihn aus der verfahrenen Situation. Mit ihrer üblichen Schroffheit trat sie polternd an den Tisch.
„Doppio Espresso, Dottore, wie immer?“, fragte sie mit ihrer Reibeisen-Stimme.
Johann nickte. Rosanna warf Raffaella einen neugierigen Blick zu. Es war das erste Mal, dass er sich mit seiner Freundin aus der Neurochirurgie in diesem Restaurant getroffen hatte.
„Und Sie, Signora?“
„Espresso“, antwortete Raffaella und zuckte unwillkürlich zusammen, als Rosanna laut scheppernd die abgegessenen Teller abräumte. Wortlos knallte sie noch die Zuckerdose auf den Tisch und verschwand wieder in der Küche. Raffaella war so beeindruckt, dass sie vorübergehend das Thema wechselte.
„Du hattest Recht mit deiner Beschreibung“, raunte sie ihm zu. „Es ist lustig hier, aber ehrlich gesagt auch ziemlich speziell.“
Offensichtlich gefiel ihr das Restaurant. Johann liebte diesen Ort, ein kleines Lokal in einer steilen Gasse der nördlichen Altstadt, das seit 1946 den Namen „Trattoria da Maria“ trug. Er hatte es schon bald entdeckt, nachdem er vor etwas mehr als einem Jahr seine Stelle im gerichtsmedizinischen Institut angetreten hatte. In dem kargen Raum mit den neongrünen Wänden standen mehrere lange Holztische, an denen keine Reservierungen akzeptiert wurden. Statt dessen nahm man Platz, wie man kam. Das Ergebnis war eine Art klassenlose Kantine für jedermann. Banker und Bauarbeiter speisten nebeneinander, elegant gekleidete Galeristinnen saßen gegenüber von alten Damen, die fast jeden Tag hier ihre Mittagssuppe löffelten. Statt einer Speisekarte hingen handgemalte Pappkärtchen an einem Brett. Darauf in einer altmodisch geschwungenen Handschrift ligurische Klassiker wie Cinghiale in Umido, geschmortes Wildschwein, oder die Buridda di Pesce, eine ligurische Fischsuppe mit Stockfisch, Meeraal und Seebarbe. Das Essen war einfach, aber schmackhaft. Und genauso rustikal war eben auch der Service. Rosanna, die hübsche, aber resolute Kellnerin, hatte nie eine Ausbildung gemacht. Aus Gesprächen mit Stammgästen wusste Johann, dass sie früher in der Via della Maddalena als Prostituierte gearbeitet hatte. Bis die zunehmende Konkurrenz aus Afrika und Osteuropa die Preise ins Bodenlose drückte und Rosanna ihre Stretch-Oberteile gegen eine Schürze tauschte.
Wortlos schob die Kellnerin jetzt die beiden Espressotassen über den Tisch, schwungvoll, aber doch so routiniert, dass die schaumig-träge Crema nicht über den Rand schwappte. Wieder klingelte Johanns Handy, noch einmal Guido, es schien tatsächlich dringend zu sein. Trotzdem brachte Johann nicht die Energie auf, das Gespräch entgegenzunehmen. Raffaella nippte am Espresso und fand zurück zu ihrem Thema:
„Im Ernst Johann, ich begreife dich nicht. Warum hältst du mich auf Abstand, immer wenn es richtig schön werden könnte?“
Johann schwieg. Er wusste, dass sie Recht hatte. Aber er wollte nicht darüber reden. Was hätte er auch sagen sollen? Dass sich sein Leben gerade wie eine Sackgasse anfühlte? Dass es zwei Frauen darin gab und es deshalb immer komplizierter wurde? Dass er sich vorkam wie in einer Zwangsjacke, irgendwie gelähmt, auf jeden Fall unfähig eine Lösung zu finden? Er dachte an Enza, die andere Frau in seinem Leben, und zwang sich zu zwei Sätzen.
„Nein, ich habe keine Angst vor dir“, sagte er. „Gib mir einfach ein bisschen Zeit.“
Die späte Antwort auf ihre ursprüngliche Frage. Ziemlich hilflos, er wusste das, und sie spürte es sowieso.
„Du bist ein seltsamer Typ“, sagte sie stirnrunzelnd und griff trotzdem nach seiner Hand. In diesem Moment hörte Johann die Stimme eines Mannes aufgeregt seinen Namen rufen.
„Dottore, entschuldigen Sie, wenn ich stören muss. Aber Sie gehen nicht ans Telefon. Es ist wirklich dringend.“
Guido Ferrari trat heftig atmend an den Tisch, ein kleiner, sehr schlanker Mann in schwarzen Jeans und einem braunen Retro-Cordjackett. Seine hellblonden, normalerweise perfekt gefönten Haare waren nass und zerzaust. Auch sein dezentes Make-Up hatte gelitten, offenbar war er ein Stück durch den Regen gerannt.
„Tut mir leid, ich habe das Handy auf stumm gestellt“, log Johann und merkte, dass Raffaella weiterhin seine Hand hielt. Er zog den Arm zurück und wollte die beiden einander vorstellen. Doch Raffaella kam ihm zuvor und stand auf:
„Ich bin Raffaella Ursi, eine Kollegin aus der Neurochirurgie.“
Guido ließ sich nicht anmerken, ob ihm das Händchenhalten in irgendeiner Form aufgefallen war. Er stellte sich ebenfalls vor und sagte dann höflich, aber bestimmt:
„Es tut mir leid, wenn ich störe. Aber wir müssen dringend zum Hafen. Wir haben einen Todesfall. Und die neue Kommissarin wartet schon seit einer halben Stunde.“
Kapitel 2 / Johann / Donnerstag, 14:53 Uhr
Die Leiche roch seltsam. Nicht nach Verwesung, sondern eher muffig und leicht nach Knoblauch.
„Unsere Spezialisten konnten keine tödliche Verletzung erkennen“, sagte die hochgewachsene Frau mit den kurzen blonden Haaren zur Begrüßung. „Deshalb war es mir sehr wichtig, dass Sie sich das Ganze hier vor Ort anschauen.“
Johann war angenehm überrascht. Commissaria Susanna Busso vermittelte ihm sofort das Gefühl, dass sie seine Arbeit schätzte. Das hatte er bei ihrem männlichen Vorgänger nur selten erlebt. Bussos Händedruck war fest, ihr Lächeln herzlich. Von Anfang an war ihm die neue Kollegin sympathisch, und er ihr offenbar auch. Während sie darauf warteten, dass der Polizeifotograf seine Arbeit beendete, entwickelte sich sofort ein nettes Gespräch.
„Sind Sie Italiener?“, fragte die Kommissarin.
Johann sprach annähernd perfektes Italienisch, aber ihm war bewusst, dass er seinen leichten Akzent niemals verlieren würde.
„Nein, ich komme aus Deutschland. Mein Vater stammt hier aus Ligurien. Er kam als Bauarbeiter nach Hamburg und lernte meine Mutter kennen. Hört man es sehr?“
„Nein, nur ein bisschen. Aber das ist gut“, antwortete sie und sprach plötzlich Deutsch mit einem breiten Alpenakzent. „Wenn wir mal Geheimnisse austauschen wollen, dann können wir uns auf Deutsch unterhalten.“
Sie zwinkerte ihm zu, das Eis war endgültig gebrochen. Johann wechselte ebenfalls in seine Muttersprache.
„Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?“
„Ich komme aus Vipiteno. Bei uns Südtirolern heißt die Stadt natürlich Sterzing. Ich bin auf eine deutsche Schule gegangen.“
Guido stand irritiert daneben und begriff nur eines: Sein Chef verstand sich bestens mit der neuen Kommissarin. Die drei befanden sich im Eingang einer riesigen Lagerhalle am äußersten Rand des Containerhafens. Fünf Meter von ihnen entfernt war der Fotograf damit beschäftigt, ein längliches graues Bündel zu dokumentieren, das zwischen zusammengerollten Tauen auf dem Boden lag. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Leichensack aus PE-Folie, wie er auch im gerichtsmedizinischen Institut verwendet wurde. Der Reißverschluss war zur Hälfte aufgezogen, durch die Öffnung war bleichgrau der Körper eines unbekleideten, sehr alten Mannes zu erahnen. Dahinter wurde ein hoch aufgetürmtes Chaos aus geflochtenen Seilen von drei Akku-Scheinwerfern angestrahlt. Mehrere Kriminaltechniker in weißen Ganzkörperanzügen kletterten vorsichtig zwischen den Stapeln herum, um nach Spuren zu suchen.
„Wir nehmen an, dass die Leiche hier nur abgelegt wurde“, sagte die Kommissarin wieder auf Italienisch. „Die Halle war nicht mal abgeschlossen. Sie wird seit Jahren nicht mehr benutzt. Offenbar war das mal eine Art Seil-Lager.“
„Wer hat ihn gefunden“, fragte Johann.
„Ein Obdachloser, der hier nach einem Unterschlupf suchte. Wir halten ihn für glaubwürdig, obwohl er alles andere als nüchtern war. Er entdeckte den Sack unter den zusammengerollten Tauen und wollte hineinschauen, um vielleicht etwas Verwertbares zu finden. Er öffnete den Reißverschluss, sah die Leiche und alarmierte die Polizei.“
Der Fotograf war fertig. Johann und Guido schlüpften in ihre Schutzanzüge und begannen mit der Untersuchung. Vorsichtig öffnete Johann den Reißverschluss in der ganzen Länge und klappte die obere Hälfte des Leichensacks nach hinten. Der Geruch nach muffigem Knoblauch wurde stärker.
„Merkwürdig, haben Sie so etwas schon mal gerochen, Dottore?“, fragte Guido.
„Nein“, antwortete Johann, der insgeheim froh war, dass ihnen kein Fäulnisgeruch entgegenschlug. Denn er wusste aus Erfahrung, dass sein junger Assistent damit nicht gut umgehen konnte. Die Leiche lag auf dem Bauch, vollkommen nackt und ohne jede sichtbare Verletzung. Kopf und Bart waren glatt rasiert. Abgesehen von einer Vielzahl von Altersflecken wies die knittrige Haut keine Verfärbungen auf.
„Aber in der Literatur steht, dass Menschen, die mit Arsen vergiftet wurden, manchmal nach Knoblauch riechen“, fuhr Johann fort. „Wissen Sie, was Gerichtsmediziner vor 700 Jahren in Bologna getan haben, wenn es den Verdacht auf Giftmord gab? Sie öffneten das Verdauungssystem der Leiche und warfen den Mageninhalt auf glühende Kohlen. Wenn es dann nach Knoblauch roch, dann galt das Arsen als nachgewiesen.“
Während Johann sprach, untersuchte er systematisch Zentimeter für Zentimeter die Rückseite der Leiche und nahm mit einer speziellen Klebefolie eine Vielzahl von Proben.
„Zu dieser Zeit wurde Arsen im Volksmund auch Erbenpulver genannt. Man schätzt, dass damals 90 Prozent aller Morde mit Arsen begangen wurden. Ob jemand unseren Mann hier vergiftet hat, werden wir erst im Institut feststellen können. Denkbar wäre es. Wir sehen keine Wunden, keinen Austritt von Körperflüssigkeiten, keine Leichenflecken. Als wäre er friedlich eingeschlafen und danach noch gewaschen worden.“
Vorsichtig hob er die rechte Hand des alten Mannes an. Auch der Arm war nirgendwo verletzt. Außerdem ließ er sich frei bewegen.
„Keine Totenstarre,“ kommentierte Johann.
„Das bedeutet,“ erklärte Guido an die Kommissarin gewandt, „er ist entweder erst vor weniger als drei Stunden gestorben, was nicht besonders wahrscheinlich ist. Oder … “
Susanna Busso sprach seinen Satz zu Ende:
„Oder er ist schon mindestens zwei bis drei Tage tot.“
Mit einem Augenzwinkern gab sie Guido zu verstehen, dass er solches Basiswissen bei ihr voraussetzen konnte.
„Aber wenn er schon so lange tot wäre, dann müsste doch längst die Verwesung eingesetzt haben“, fuhr sie fort.
„Sie haben Recht“, sagte Johann nachdenklich. „Außer, wenn die Leiche gekühlt wurde.“
Er sah sich um. In der Halle schien es keinen elektrischen Strom zu geben. Zwischen den Seilstapeln deuteten einige Inseln aus Plastikmüll darauf hin, dass sich hier immer wieder mal illegale Übernachtungsgäste hinein schlichen. Das Dach der Halle war jedenfalls noch dicht. Der Gewitterregen prasselte laut auf das Blech, ohne dass es irgendwo tropfte. Johann zog ein Thermometer aus der Tasche. Die Raumtemperatur lag bei 23 Grad. Wenn die Sonne schien, wurde es hier mit Sicherheit noch viel wärmer. An diesem Ort war die Leiche jedenfalls nicht gekühlt worden.
„Legen Sie mich nicht fest“, sagte er zu Susanna Busso. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Körper schon länger als 24 Stunden in dieser Halle liegt. Wahrscheinlich wurde er in der vergangenen Nacht hier deponiert. Was davor geschah, müssen wir herausfinden.“
Zusammen mit Guido drehte er die Leiche vorsichtig auf den Rücken. Sie blickten in das Gesicht eines Greises. Die Augen waren friedlich geschlossen, tiefe Furchen zogen sich durch die eingefallenen Wangen, der zahnlose Mund stand leicht offen. Auch auf der Vorderseite wies der Leichnam erstaunlicherweise keinerlei Totenflecken auf. Doch das war es nicht, was alle drei für einen kurzen Moment sprachlos machte. Es war ein etwa 20 Zentimeter langer Schnitt, der exakt über dem Brustbein vom Hals bis zum Bauch des Toten verlief. Ob er daran gestorben war, ließ sich noch nicht beurteilen. Jemand hatte die Wunde mit groben Stichen wieder verschlossen. Die Naht wirkte vollkommen unblutig und konnte nicht verhüllen, dass das zusammengenähte Fleisch kein bisschen zusammengewachsen war.
Hier könnt Ihr „Tanz gegen den Tod“ kaufen: